gabriel flückiger, kunstwissenschaftler/künstler
zur malerei «falten»
in ihrer malerei setzt sich susanne gutjahr seit langem mit der schnittstelle von tänzeischer bewegung und bild auseinander. es ist dies eine beschäftigung mit dem gestalterischen potenzial, das der übersetzung von tänzerischem ausdruck in bildformen innewohnt. als konzeptuelle und visuelle schaffensgrundlage hielt gutjahr mit gezeichneten modellfiguren einen von ihr choreografierten bewegungsablauf auf transparentpapieren fest, den sie anschliessend zu einem differenzierten formenrepertoire überarbeitete («falten I»).
ihre bewegungen überführte sie in mehreren abstrahierenden schritten von einer naturgetreuen darstellung hin zu schematisierend-minimierten – vereinfachten – figurativen zeichen, bewegten linien, geometrischen flächen sowie zur vollständigen auflösung durch die zusammenführung in einem dicken, pinselhaften strich. dieses ensemble von verschiedenen formen, welche alle aus dem bewegungsablauf entstanden sind – von gutjahr auch als «programm» bezeichnet –dienten ihr danach dazu, bildnerisch zu tanzen beginnen. gutjahr komponierte die unterschiedlichen notationselemente ihrer tanzsequenz auf einzelnen bildern neu: die naturalistisch-figürlichen umsetzungen wurden vervielfacht, überlagert und verdichtet; die zeichenhaften figuren gruppiert, verwoben und vergrössert, verändert. die geometrischen flächen zu rasterungen angeordnet.
«falten I» zeigt sich als buch, welches ausgehend von einer abstrahierten bewegungsnotation die aufmerksamkeit auf den strich und den gestalterischen umgang mit der fläche richtet und dabei die ursprüngliche bewegung als echo in einem spiel von dichte und vereinfachung, sowie fülle und reduktion nachhallen lässt. die erarbeiteten bild-vokabeln, das rhythmisiert-kompositorische anordnen von linien, strichen und musterungen, die allesamt einer bewegtheit entstammen, leiten fortan gutjahrs künstlerisches denken. in unterschiedlichen konstellationen wird sie ihr formenrepertoire im werkkomplex «falten» anwenden, variieren und erweitern.
so bestehen die grossformatigen acryl-malereien der serie «falten II» (ab 1990) meist aus bandartigen linien, die sich zu einem bild seismografischer bewegung formen. einzelne pinselstriche werden streng parallel gesetzt um dies sogleich sukzessive mit eckigen einschüben aufzubrechen, verschiebungen im linienverlauf zu erzeugen und bis zur zerknüllung und auflösung einer klaren anordnung zu folgen. konsequent sind alle bilder schwarz auf weiss gehalten, womit sich die bildwirkung bewusst auf den bewegt-energetisierten zustand konzentriert.
diese erkundung der bildgestaltung führt gutjahr bei «falten IV» (2005/08/13) zu dickeren linien, welche wiederum dynamisch interagieren.
«falten IV» sind kompositionen, die sich auf die gegenüberstellung von zersplitterungen und kontinuität sowie (ab)brüchen und fortschritt einlassen. die malereien entwickeln aufgrund dieser visuellen vibrationen eine klanglichkeit, welche vergleichbar mit dem musikalischen staccato eine klare artikulation erzeugt. doch enthält das bild entgegen dem ton, der in die stille entflieht, eine gesetzte formung, welche sich dem blick immer wieder ausliefert. dieses spannungsfeld von präsenz und flüchtigkeit liegt gutjahrs künstlerische arbeitsmotivation zugrunde, wenn man bedenkt, dass das, was sich für die musik herausgebildet hat, für den tanz nie zustande kam: eine über jahrhunderte hinweg verbindliche notationsweise.
im tanz dagegen gibt es kein standardisiertes referenzsystem, auf welches konventionell bezug genommen werden kann; umso prominenter wird dabei der individuelle künstlerische ansatz der notation – alle formen gehören untrennbar zur langjährigen beschäftigung mit bewegung und ihrer übersetzung ins bildnerische. es entstand dabei ein unverwechselbares, sehr persönliches notationssystem mit eigenständigen visuellen formulierungen.
von den amerikanischen abstrakten expressionisten der nachkriegszeit wird berichtet, dass deren malprozess ein sehr körperlicher, eruptiver und wilder gewesen sei. die malerei wurde zur arena der sensiblen empfindsamkeit und der malakt zur körperbetonten begegnung mit der leinwand. vergleicht man diese vorgehensweise mit jener von gutjahr, wird das bildprinzip letzterer umso deutlicher: auch die abstrakten expressionisten verstanden den malauftrag als spurensetzen, als resultat von bewegung, doch ist gutjahr in vielen arbeiten nicht ausschliesslich an einem authentischen, unmittelbaren ausdruck interessiert. ein werkkomplex wie «falten» besticht vielmehr aufgrund einer umsichtigen, sachten heranführung an momente der bildbewegung. das tempo des strichs ist jeweils tariert und entsprechend der bewegungsspuren, die die künstlerin gesucht, gewählt hat.
ab «falten zoom» (2010/13) sind dies nun netzartige gebilde/gefüge/systeme/kompositionen, zellförmige strukturen, die weniger fliessende bewegung des einzelnen strichs als eher angespanntes verharren, eine topografie der spannung zeigen.
die einzelnen musterungen, liniengefüge und strichsetzungen sind bei gutjahr immer über die ganze bildfläche realisiert, ein ‚all-over’, das bis an den rand geht und darüber hinaus erweitert werden könnte. mit diesem wandfüllenden aspekt bekommen die arbeiten etwas raumgreifendes, umfassendes.
dies entspricht der ganzen künstlerischen produktion, die in umfang, schaffenskraft, intensität und qualität zu einem umfassenden lebenswerk gewachsen ist.
gabriel flückiger, kunstwissenschaftler/künstler
zur malerei/weitere werkgruppen «falten»
die neue serie, die werkgruppe ensembles1/2/3/4 «falten-zoom/pink» schliesst an ihr bisheriges werk an, das sich seit mehreren jahrzehnten mit der schnittstelle von tänzerischer bewegung ins bild auseinandersetzt.
die grelle farbgebung der aktuellen werkreihe gebärdet sich ausgelassen, laut, lebendig, ja fast schon mit fröhlichem beiklang, doch steht die intensive kolorierung der bilder für die künstlerin vielmehr einem elegischen, empfindsamen und sensiblen ausdruck des schmerzhaften nahe – ein aufschrei der farbe. ein emotionaler umstand, den die formfindungen zusätzlich betonen, die netzstrukturen sind kleinteiliger, wenig flexibel. im besonderen lassen die ausformungen/formbildungen verrenkungen, verkrümmungen von körperteilen oder der wirbelsäule imaginieren und so die vergänglichkeit des körpers ungeschönt reflexive qualität der bilder werden.
auch die bilderserie «falten zoom III/6» ist für die künstlerin bildliche analogie vergangener beweglichkeit des eigenen, tanzenden körpers. das engmaschige netz suggeriert nicht mehr elastizität wie ehemals, sondern erstarrung und versteifung, ein muskelgewebe, das sich nicht mehr freiheitlich formen lässt. so überdeckt denn auch ein weisser schleier die silberne struktur, macht die bilder zum melancholischen, leisen, fernen echo ehemaligen tänzerischen glanzes.
gabriel flückiger, kunstwissenschaftler/künstler
zur malerei «grosny»
daneben gibt es werkserien, welche sich von dieser herangehensweise lösen und einem expressiveren schaffen näherkommen.
bei «dazwischen» (2008/09) sollte die bildgenerierung weniger gedacht oder choreographiert als vielmehr aus dem moment heraus entstehen. der pinselduktus der serie wirkt weich-kräuselnd und die bilder entsprechen dem blick auf ruhende gewässer, das wiegend licht reflektiert.
«ciel bleu» (2008/9), eine ebenfalls freier konzeptionierte werkserie, arbeitet mit bildtiefe und zeigt abgerundete hellblaue, gelbe und schwarze quadrate, welche sich hinter einer schimmernden pinselstrich-verschleierung zu ausblicken in farbräume entfalten, gedeihen.
neben «dazwischen» und «ciel bleu» existiert mit «grosny» (2007/08/razoni 2022) eine weitere bildfolge, die sich vom bewegten strich der bild-choreographie löst und darüberhinaus einen konkreten bezug zur gesellschaftlichen aussenwelt beinhaltet. in flächig-mehrschichtigen, teils aggressiven, teils zerrinnenden abstaktionen, die von den radioberichterstattungen über den zweiten tschetschenienkrieg (und weiteren krisenherden) inspiriert sind, wird ohne illustrativen oder erklärenden charakter eine dringlichkeit evident, die die malerei als gefüge aufwühlender zerrissenheit zeigt.
konrad tobler, kulturjournalist/kunstkritiker
über das werk von susanne gutjahr
sie ist freischaffende künstlerin und fotografin. ihre werke wurden zum beispiel in den museen von neuenburg und la chaux-de-fonds und in verschiedenen galerien gezeigt. 2001 publizierte sie einen grossformatigen bildband mit fotografien: «be rockt – ein bildband zur berner rockszene». es sind nahe, authentische aufnahmen, sie sind voller bewegung. es treten auf: züri west, stephan eicher, dann auch polo hofer und büne huber, span, die shoppers und stiller has. wie einmal geschrieben wurde: «die berner szene live: in ihren fotosequenzen montiert susanne gutjahr konzerte, die an verschiedensten orten stattfanden, zu einem einzigen grossen festival». (textauszug zu/aus kunstpublikation kunstfutter)
francesco micieli, schriftsteller/dozent
zum fotografischen werk
stillgestellte träume
der blick der fotografin&künstlerin susanne gutjahr auf die bernischen pop-grössen ist wie die offenlegung eines bubentraumes. vor allen möglichen spiegeln gestanden, um die idole nachzuahmen, deren blick, deren körperhaltung, deren ausdruck. der spiegel reagierte gereizt darauf. bei den vorliegenden fotografien ahnt man diese träume und den traum der abgebildeten, die jetzt selber auch nachgeahmt werden. diese fotografien haben das für uns stillgestellt. das macht ihre besonderheit aus.
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